WÜTENDE VULVA: GENDERMEDIZIN
Ich bin wütend!
Bereits im Biologieunterricht lernen wir, dass es physiologische Unterschiede von Frauen und Männern gibt. Jede einzelne Zelle trägt die geschlechtstypischen Chromosomen in sich. Sollte bei solch wesentlichen Unterschieden in der menschlichen Bauweise nicht eigentlich klar sein, dass auch medizinische Behandlung hierauf eingehen muss? Wie kann es sein, dass im 21. Jahrhundert so getan wird, als funktioniere der Körper von Person A genauso wie von Person B? Unabhängig von biologischen und soziokulturellen Merkmalen? Als gäbe es ein feststehendes Schema, passend für (fast) alle, um Krankheit zu heilen und Gesundheit zu fördern?
Die Medizin hat die Unterschiede über Jahrzehnte in Forschung, Lehre und Praxis ignoriert. Warum? Es ist einfach zu kompliziert. Frauen unterliegen hormonellen Schwankungen, daher sind Versuchsreihen so umständlich – das gilt übrigens sogar schon für Versuchsreihen mit Mäusen im Medizinstudium.1 Dass dann die potenziellen Patient:innen im Falle von Krankheit möglicherweise aufgrund von hormonellen Schwankungen keine optimale Behandlung erhalten, schien jahrelang erstmal zweitrangig.
Ich bin wütend!
Denn es geht hier nicht nur um die Benachteiligung von Frauen in der Medizin. Diskriminierungserfahrungen in Diagnostik und Therapie können potenziell jede:n treffen, sofern das Schubladendenken der Lehrbücher aus den vorherigen Jahrhunderten weiterhin als Standard gilt. Sofern geglaubt wird, dass alle Menschen bei einer Erkrankung immer die gleichen Symptome zeigen müssten. Ist dem übrigens nicht so, werden Hinweise als atypisch deklariert. Und wenn er*sie Pech hat, ist er*sie nicht nur unnormal, sondern die Erkrankungen werden vor lauter Abnormität nicht mal erkannt, geschweige denn adäquat behandelt. „Dann ruhste dich mal ein bisschen aus, nimmst ein paar Medikamente und dann wird das schon wieder!“
Bis heute gibt es deutschlandweit nur einen einzigen Lehrstuhl für Gendermedizin, der sich darauf spezialisiert, die menschliche Diversität sensibel zu würdigen und eine individualisierte, ganzheitliche Medizin zu bieten. Ein Lehrstuhl von 42 möglichen Universitäten! Ein wenig beschwichtigend scheint zunächst, dass zumindest die Dekan:innen an den Hochschulen gendersensible Aspekte insgesamt doch als (eher) wichtig einstufen. Das Thema zu priorisieren? Davon wird dennoch abgesehen – so wichtig dann doch wieder nicht! Ach, was glaubt ihr, wer eigentlich dafür zuständig sein sollte, dass gendersensible Medizin deutschlandweit in die Lehre integriert wird? Ganz klar! Die Gleichstellungsbeauftragten der Hochschulen. (Hinweis: Diese sind definitiv nicht für die inhaltliche Reformation der Studiengänge zuständig). Sollen´s halt die machen, die `n Problem damit haben, oder?2
Mein Problem hierbei
Es handelt sich nicht um kleine Befindlichkeiten. Wir haben es mit herabgesetzter Lebensqualität zu tun. Wir haben es damit zu tun, dass teils lebensbedrohliche Krankheiten nicht erkannt werden; dass in Notaufnahmen deutlich längere Wartezeiten aufgrund von unsensibler Schnelldiagnostik entstehen; dass unpassende Medikamente verordnet werden;3 dass Menschen mit Behinderungen keine Behandlungen aufsuchen; dass Leidensdruck als Wehleidigkeit fehlinterpretiert wird; dass Personen aus der LGBTQI-Community aufgrund von Diskriminierungserfahrungen ihre sexuelle Identität für sich behalten. Das darf nicht sein! Gendermedizin bedeutet Diversität zu würdigen und intersektional zu denken. Denn die Diskriminierungen beziehen sich nicht „nur“ auf das (biologische und soziale) Geschlecht, sondern auf sämtliche Dimensionen von Diskriminierung wie u.a. Rassismus, Religion, Behinderung, Alter und sexuelle Identität. Medizin muss menschlich bunt werden!
Bewusst wurden mir diese Missstände erstmalig durch Giulia Becker und Jan Böhmermann, die die Gendermedizin satirisch aufbereiteten. Bis dahin ging ich wie selbstverständlich davon aus, dass die Medizin gendersensibel agiert. Also bleibe ich nach unserem Salon zum Thema Gendermedizin irgendwie erschüttert und frustriert zurück. Denn was für Handlungsspielräume habe ich dann überhaupt? Meine Antwort: Sich informieren und sowohl mich als auch mein Umfeld für das Thema zu sensibilisieren. Doch das allein kann nicht reichen. Vielmehr muss sich zwingend die Lehre verändern, Mediziner:innen in Fortbildungen zur Gendermedizin gesteckt und die extrem reiche Pharmaindustrie zu geschlechtersensiblen Studien verpflichtet werden!
Zur Sprache auf diesem Blog: Immer, wenn wir Genderbezeichnungen nutzen, beziehen wir uns gleichermaßen auf trans wie cis Menschen. Uns ist bewusst, dass die von uns verwendeten Begriffe soziale Konstrukte sind und es mehr als zwei Geschlechter gibt. Um gendersensible Sprache zu verwenden, nutzen wir den Doppelpunkt. Falls wir über eine Person schreiben, die sich eine andere Selbstbezeichnung wünscht, verwenden wir diese.
- Christine Westerhaus, „Anders krank. Die Gendermedizin betont die Unterschiede zwischen Mann und Frau“, Deutschlandfunk, 4. Dezember 2011, https://www.deutschlandfunk.de/anders-krank.740.de.html?dram:article_id=112102 [Aufruf: 18.03.2021]. [↩]
- Dettmer, Susanne; Kaczmarczyk, Gabriele; Ludwig, Sabine; Seeland, Ute, „Geschlechtersensibilität: Noch ein weiter Weg“, in: Deutsches Ärzteblatt 2021; 118(9): A-451 / B-380, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/sw/Gendermedizin?s=&p=1&n=1&aid=218109 [Aufruf: 18.03.2021]. [↩]
- Quarks, Gendermedizin – So wichtig ist der Unterschied, 10. Dezember 2019, YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=SVjfFxthMaMm Ab 05:20 [Aufruf: 18.03.2021]. [↩]