Alles was verboten ist
Alles was verboten ist folgt der 11-jährigen Anna über fünf Jahrzehnte und erzählt von der Selbstbehauptung ihrer Lust in einer Gesellschaft, die keinen Raum dafür vorsieht. Als Det mest förbjudna, „Das Verbotenste“, 1976 im schwedischen Original erschienen, wurde das Buch noch im selben Jahr ins Deutsche übersetzt und ist seitdem mit einem Cover erhältlich (ein nackter Frauentorso), das an Zweigroschenromane an Supermarktkassen erinnert. Kerstin Thorvalls (1925–2010) Roman ist hingegen weder eine romantische Liebesgeschichte noch eine pornografische Erzählung.
Anna verliert mit 11 Jahren ihren psychisch erkrankten Vater, dessen Libido nicht mit derjenigen seiner Frau übereinstimmte. Mit der mütterlichen Abwertung jeglicher Sexualität und dem Gefühl, nicht „normal“ zu sein, hat Anna ein Leben lang zu kämpfen:
„Es sollte ‚ausgewogen‘ bei der Tochter werden. Seine ‚Übersexualität‘ und die ‚Reinheit‘ (Frigidität) der Ehefrau sollten irgendeine Art Mittelwert ergeben, der ‚ausgewogen‘ sein würde.“
Übersetzung der Autorin, i. O. S. 57
Als Leser:in verfolgt man die Konsequenzen, die die Tabuisierung von weiblicher Lust und Sexualität für Annas Leben haben: jahrelange Therapie, Angstattacken, Bindungsängste, Flucht. Alles, was verboten ist, ist ihr Drang nach Sex und um diesen Ausleben zu können, bricht sie mit gesellschaftlichen Tabus. Diese werden insbesondere in Form von Annas weiblichen Familienmitgliedern, ihrer Mutter und Großmutter, verdeutlicht, die als einzige Personen Namen und Charakterbeschreibungen erhalten. Annas wechselnde Sexualpartner erhalten hingegen weder Namen noch Raum. Nach dem Erfüllen ihrer Rolle als Liebhaber oder Vater verlassen sie die Erzählung. Als Sinnbild für die kontrollierte, brave und sich jeglichen Genuss verbietende Frau dienen Puddingteilchen (wienerbröd): In Annas Familie werden diese erst nach drei Tagen in vertrocknetem Zustand verspeist. Anna steht im Fokus der Erzählung, wodurch nie die Perspektive von anderen Personen, wie beispielsweise ihrer Kinder, eingenommen wird oder mögliche Folgen von Annas Verhalten diskutiert werden.
Dass das Sexleben einer 50-jährigen Frau nicht gesellschaftstauglich war – und ist? – zeigen auch die negativen Rezensionen, die der Roman bei seiner Erscheinung erhielt. Neben dem als anstößig empfundenen Lustempfinden wurden insbesondere Annas fehlende mütterliche Hingabe und (bis heute) die autobiografischen Züge des Romans kritisiert. Die Hauptfigur in Alles was verboten ist weist gewisse Parallelen zu Thorvall auf: Auch sie verlor mit 11 Jahren ihren manisch-depressiven Vater, war mehrmals verheiratet und Mutter von vier Söhnen. Als rein private und nicht politische „Bekenntnisliteratur“ (bekännelselitteratur) wahrgenommen, wurde Thorvall von der feministischen Szene Schwedens nicht weiter rezipiert.1 2009 wurde der Roman letztendlich in die Reihe Tausend schwedische Klassiker (Tusen Svenska Klassiker) aufgenommen und 2016 in einer dreiteiligen Miniserie auf Schwedisch verfilmt, woraufhin Annas Reisen nach Rom oder Kuba erstmals kritisch als Sextourismus diskutiert wurden:
Kerstin Thorvall war Modezeichnerin, Journalistin und Autorin, die auch Kinder- und Jugendliteratur verfasste. Insbesondere ihre Romantriologie När man skjuter arbetare, I skuggan av oron und Från Signe till Alberte, 1993-1998, greift die Themen des Romans wieder auf. Neben Kinder- und Jugendbüchern wurde noch Die Verschwundene 1985 ins Deutsche übersetzt.
Thorvall, Kerstin, Alles was verboten ist, Edition Sven Erik Bergh, 1976, i. O. Bonnier förlag 1976.
- Jonsson, Ann-Louise, „Får man skriva så här?” En feministisk undersökning av mottagandet i recensioner i svensk dagspress av fyra romaner med bekännelsekaraktär, Magisterarbeit, Högskola Borås 2005. [↩]