Allgemein,  Salonthema,  Simone de Beauvoir & Das andere Geschlecht

Französische Feminismen. Eine Spurensuche

Als wir durch die Ausstellung Simone de Beauvoir. Das Andere Geschlecht in der Bundeskunsthalle gehen, entsteht bei mir der Eindruck eines deutsch-französischen Austauschs. Alice Schwarzer – die vollkommen unkritisch dargestellt wird – und Simone de Beauvoir hatten verschiedene Begegnungen und Gespräche. Ich bin eine frankophile Person, spreche Französisch, habe ein Semester in Frankreich studiert und frage mich unweigerlich, wie es heute um die deutsch-französischen Feminismen steht. Was weiß ich eigentlich über heutige Feminismen in Frankreich? Wird auch de Beauvoir heute kritisch gesehen? Ich mache mich auf die Suche. 

Schritt 1: Feministische Kollektive

Ich bin im Winter eine Woche in Paris und kontaktiere französische Kollektive, ob sie Lust und Zeit auf ein Gespräch hätten. Leider bekomme ich keine Antwort. Ob Zufall oder Algorithmus oder doch eine gelesene Nachricht, ein französisches Magazin (@ magazine_yegg) beginnt unserem Instagram-Account zu folgen. Als ich ihre neuste Ausgabe durchblättere, fällt mir vor allem auf: die Sprache erscheint aggressiver als in Deutschland, Worte wie Kampf fallen immer wieder. Feminismus wird immer im Plural verwendet. 

Schritt 2: Private Kontakte

Ich treffe mich mit Freund*innen zum Abendessen und ich frage sie: Was macht französischer Feminismus (heute) aus? Wie steht ihr zu Simone de Beauvoir? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede nehmt ihr zu den deutschen Debatten wahr? 
Die Antworten meiner weißen akademisch gebildeten Freund*innen sind ähnlich: Simone de Beauvoir sei eine unangetastete – und unantastbare? – Ikone. Der 8. März ist kein wichtiger Tag. Mehrere von ihnen nehmen einen Generationenkonflikt wahr.

Ein Generationenkonflikt?

Ein Beispiel dafür sehen sie in den älteren Französinnen, die vor den negativen Folgen von #metoo warnen würden. So unterzeichnete die Schauspielerin Catherine Deneuve beispielsweise 2018 gemeinsam mit 99 anderen Prominenten einen Aufruf, der in der Tageszeitung Le Monde erschien. Deneuve hatte 1971 das von de Beauvoir initiierte Manifest der 343 unterzeichnete, in dem sie sich zu einer Abtreibung bekennt. Der Text zu #metoo beginnt wie folgt: „Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber aufdringliche oder ungeschickte Anmache ist kein Vergehen und Ritterlichkeit kein machistischer Übergriff.“1 Den Frauen ging es dabei nicht um eine Kritik an #metoo, sondern eine Warnung vor den Folgen, die es haben könnte, wenn Frauen nur noch Männer hassten. Ähnlich sieht das die Philosophin und Feministin Elisabeth Badintair, die bereits seit zwei Jahrzehnten kritisiert, Frauen würden überall zu Opfern gemacht.2 Seit #metoo sorgt sie sich darum, was zu viel Verunsicherung, bei jungen Männern auslösen könnte. Kopfschütteln bei der jüngeren Generation.

Zu diesen gehört auch die Journalistin und Politikerin Alice Coffin (*1978). Coffin hat 2020 das Buch Le Génie lesbien(das lesbische Genie) veröffentlicht, das stark diskutiert wurde. Geht es dem Buch eigentlich darum, dem männlichen Genie die Errungenschaften und Bedeutung von LGBTIQA+ Aktivist*innen entgegenzusetzen, fokussierte sich die Debatte auf ein Zitat, in dem Coffin fordert, keine Werke von Männern mehr zu hören, zu lesen oder anzusehen. Futter für diejenigen, die vorm „Männerhass“ im französischen Feminismus warnen.

Für mich ungeklärt, bleibt die Frage, wie groß der Einfluss und die mediale Reichweite der als Beispiele angeführten Frauen ist. Eine Signalwirkung wie im Falle Simone de Beauvoirs geht nicht von ihnen aus. 

4. Februar 2023: 10 Femizide in 2023

Das zweite Thema, das alle meine Freund*innen ansprechen, ist der Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Das bekannteste Kollektiv unter ihnen scheint noustoutes zu sein, 2018 gegründet. Wir alle. 
Wir alle, die wir Belästigung am Arbeitsplatz erfahren haben: 32% der Frauen in Frankreich.
Wir alle, die wir (versuchte) Vergewaltigung erlebt haben: 93.000 Frauen im Jahr in Frankreich. 
Wir alle, die wir von unseren (Ex-)Partnern ermordert wurden: 2019 152 Frauen in Frankreich. 

Website noustoutes.org

Als ich mir die Website von noustoutes ansehe, fallen mir auch hier wieder unterschiedliche Formulierungen auf. Im Deutschen wird nicht mehr von sexueller, sondern sexualisierter Gewalt gesprochen. Dadurch soll deutlicher werden, dass es nicht um Sexualität, sondern Gewalt geht. Die französischen Medien beziehen sich auf „violence sexiste et sexuelle“ – sexistische und sexuelle Gewalt. 

Ein weiterer Unterschied ist die Verwendung des Wortes Femizid. „Am Donnerstag, den 2. Februar, starb in Gros-Morne (972) eine 37-jährige Frau, nachdem ihr Ex-Partner am Vortag mit einer Schusswaffe auf sie geschossen hatte.“ (Noustoutes, Instagram, 2. Februar 2023) Femizid, frz. féminicide, so berichten mir meine Freund*innen ist ein geläufiges Wort. Nachdem die Polizei einige hilfesuchende Frauen nicht ernst genommen habe, sei das Thema Gewalt in der Ehe (violence conjugale) viel debattiert und auch Radiosender würden die Femizide zählen und ankündigen.  

Deutsch-französische Feminismen?

Auf die Frage, wo die Unterschiede lägen oder ob es deutsch-französische Gemeinschaftsprojekte gebe, sind die meisten meiner Freund*innen ratlos. Ich auch. Mir fällt auch in Deutschland nicht die eine feministische Person ein, sondern viele. Beim Gespräch mit einem deutsch-französischen Paar kommt dennoch ein Thema auf den Tisch: In Frankreich werde es Frauen leichter gemacht, wieder in die Arbeit einzusteigen. Die Kinderbetreuung sei besser organisiert. Die Crèche (Krippe) ist für Kinder ab 2 Monaten möglich, in Deutschland startet die Kita i. d. R. ab einem Jahr. In Deutschland würden sich hingegen die meisten Männer respektvoller gegenüber Frauen verhalten. Das Bild des Machos sei nicht so weit verbreitet und es gebe mittlerweile mehr Gespräche darüber, was Männlichkeit bedeute (oder auch nicht).

Schritt 3: Lektüre

Nach den Gesprächen mit meinen Freund*innen bleiben viele Fragen offen. Ist Simone de Beauvoir wirklich so unangetastet in der feministischen Bewegung in Frankreich? Ingrid Galster ist sich beispielsweise sicher, dass der Geist von Simone de Beauvoir in Frankreich sehr lebendig sei – ohne, dass besonders viele Das andere Geschlecht gelesen hätten.3 Dennoch gäbe es Kritik, beispielsweise von der Schriftstellerin Hélène Cixou (*1937), die das binäre Denken de Beauvoirs seit den 1970er-Jahren kritisierte. Galster unterscheidet zwischen den Differenzfeministinnen und den Egalitätsfeministinnen. Letztere würden an de Beauvoir anschließen und die Vorstellung von etwas „natürlich Weiblichem“ ablehnen. Die Differenzfeministinnen, zu denen sie beispielsweise Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva zählt, würden hingegen das „verdrängte Weibliche“ wieder an die Oberfläche locken wollen. 

Für mich bleiben viele Fragen offen. Wie relevant ist Das andere Geschlecht noch, wenn die zwei zentralen Forderungen de Beauvoirs – Geburtenkontrolle und Zugang zum Arbeitsmarkt zwecks Unabhängigkeit – erfüllt sind? Wie blicken queere Menschen auf Das andere Geschlecht, das Homosexualität als „Wahl“ bezeichnet? Wie intersektional sind die französischen Feminismen? Wie sehr ähneln sich unsere Debatten? Und wie sehr unsere Ziele? À tout! 


Zur Sprache auf diesem Blog: Immer, wenn wir Genderbezeichnungen nutzen, beziehen wir uns gleichermaßen auf trans wie cis Menschen. Uns ist bewusst, dass die von uns verwendeten Begriffe soziale Konstrukte sind und es mehr als zwei Geschlechter gibt. Um gendersensible Sprache zu verwenden, nutzen wir den Doppelpunkt. Falls wir über eine Person schreiben, die sich eine andere Selbstbezeichnung wünscht, verwenden wir diese.

Schwarz wird großgeschrieben, da dies nicht für eine Hautfarbe, sondern politische Selbstbezeichnung steht. weiß wird kursiviert, da es sich dabei um eine privilegierte Positionszuschreibung handelt.

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  1. Nous défendons une liberté d’importuner, indispensable à la liberté sexuelle, Le Monde, https://www.lemonde.fr/idees/article/2018/01/09/nous-defendons-une-liberte-d-importuner-indispensable-a-la-liberte-sexuelle_5239134_3232.html. []
  2. siehe ihr Buch Fausse Route, 2003, auf deutsch Die Wiederentdeckung der Gleichheit, 2004. []
  3. Ingrid Galster, Simone de Beauvoir und der Feminismus, Hamburg: Argument 2015. []

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