Simone de Beauvoir – Das zweite oder das andere Geschlecht?
1949 veröffentlichte Simone de Beauvoir ihr wohl berühmtestes Werk Le Deuxième Sexe. In Deutschland erschien das Buch erstmals 1951 unter dem Titel Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Die wortwörtliche Übersetzung des Titels lautet im Deutschen „Das zweite Geschlecht“. Im Laufe der Zeit wurde das Buch in mehr als 40 Sprachen herausgegeben. In der Ausstellung wurde deutlich, dass der Originaltitel in vielen Sprachen wortwörtlich übersetzt wurde: Englisch The Second Sex, Spanisch El Segundo Sexo, Portugiesisch O Segundo Sexo, Niederländisch De Tweede Sekse – um nur einige Beispiele zu nennen. Im Deutschen wurde „das Zweite“ mit „das Andere“ übersetzt, nein, eher ausgetauscht. „Das zweite Geschlecht“ – klingt nicht schlechter, nicht weniger elegant, ist simpel, leicht verständlich und entspricht dem Original. Es drängt sich also die Frage auf, warum stattdessen „das Andere“ gewählt wurde. Das Warum wird sich hier nicht klären lassen. Ein paar persönliche Gedanken zu dem Unterschied zwischen „Das Zweite“ und „das Andere“ möchte ich trotzdem gern teilen.
Das Zweite
Das Zweite kann zunächst als eine Aufzählung verstanden werden. Im Kontext von de Beauvoir ist das erste Geschlecht das Männliche. Es folgt die Nummer Zwei, das Weibliche. Das Schöne an so einer Aufzählung ist, dass sie beliebig fortgeführt werden kann. Ein drittes, viertes, fünftes usw. Geschlecht kann problemlos an die Reihe angeschlossen werden. „Das Zweite“ suggeriert somit, dass es nicht, wie leider immer noch viel zu häufig angenommen wird, lediglich zwei biologische und soziale Geschlechter gibt. Vielmehr ermöglicht das zweite Geschlecht die Existenz weiterer Geschlechter. Auf der anderen Seite steht das Zweite auch für eine hierarchische Ordnung.
Plastisches Beispiel: Sport
Der:die Erste ist Gewinner:in. Dieser Person gebührt Ruhm und Ehre, sie bekommt Aufmerksamkeit und die Sponsoring-Verträge. Die zweitplatzierte Person ist gut, aber nicht gut genug. Die beliebte Reporter:innenfrage „Warum hat es heute nicht zu mehr gereicht?“ reibt Silbermedaillenträger: innen das vermeintliche sportliche Versagen besonders eindrucksvoll unter die Nase. Der:die Drittplatzierte hat es noch gerade so auf das Treppchen geschafft. Platz vier ist schon keinen Bericht mehr wert. Wer nicht auf dem ersten Platz gelandet ist, hat sich hinten anzustellen, muss stärker um die Anerkennung der sportlichen Leistung kämpfen und auf (finanzielle) Unterstützung hoffen, um z.B. die Trainingsbedingungen oder die Ausrüstung zu verbessern. Der:die Erstplatzierte ist der Maßstab, an dem sich alle anderen messen müssen. Zu ihm:ihr wird hinaufgeschaut und es wird angestrebt mit dem:der Gewinner:in gleichzuziehen.
So ähnlich ist es doch auch mit den Geschlechtern. Unser Gewinner ist das männliche Geschlecht. Auf das Podest gehoben durch das Patriachat und den Titel erfolgreich verteidigt, gepusht und unterstützt, ebenfalls durch das Patriachat. Die Frau ist als Zweite zwar gut, aber nicht gut genug. Sie erfüllt nicht die „Norm“ des Mannes.
Das Andere
Genauso weicht die Frau als „das andere Geschlecht“ von der Norm ab. Dabei kann das Andere nur existieren, wenn zuvor das Eine definiert wurde. Natürlich kann auch das Eine nicht ohne das Andere bestehen, entscheidend ist jedoch die Richtung, in welche die Abgrenzung vorgenommen wird. Das Eine und das Andere klingen für mich wie normal und anormal, gewöhnlich und ungewöhnlich, bekannt und fremd. Das Normale, Gewöhnliche, Bekannte ist halt da, hat eine Daseinsberechtigung. Das Anormale, Ungewöhnliche, Fremde existiert zwar auch, aber immer nur in Abgrenzung zum Einen. Das Andere kann den Stand des Einen nicht erreichen, so sehr es sich auch anstrengt. Die Beziehung zwischen das Eine und das Andere ist also auch wieder hierarchisch. Bezogen auf das Geschlecht schreibt de Beauvoir dazu: „Sie [die Frau] wird mit Bezug auf den Mann determiniert und differenziert, er aber nicht in Bezug auf sie. Sie ist das Unwesentliche gegenüber dem Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.“((Simone de Beauvoir: Das Andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 1992, 24. Auflage Mai 2021, S. 12.)) De Beauvoir beschreibt damit treffend die gängige Geschlechterordnung, der Mann an der Spitze, die Frau untergeordnet, top-down, Patriachat zack, fertig. Nach de Beauvoir legen sich die Kategorien von dem Einen und dem Anderen, dem Bekannten und dem Fremden, diesem ganzen hierarchischem Gegensatzsystem nur überwinden, „[…] wenn die menschliche Realität ausschließlich ein auf Solidarität und Freundschaft beruhende Mitsein wäre.“((Ebd. S. 13.)) Lass ich mal so stehen.
Gegensätze Mann/Frau
Im Gegensatz zum zweiten Geschlecht definiert das andere Geschlecht genau zwei Geschlechter: das Eine, das Männliche und das Andere, das Weibliche. Im Kontext von de Beauvoir ist es vielleicht passend, da sie viel vom Dualismus Mann/Frau schreibt. Diese Abgeschlossenheit finde ich, insbesondere aus heutiger Sicht, schwierig. Die Idee der binäre Geschlechterordnung ist überholt. Um es mit Sookees Worten zu sagen: „Es gibt doch mehr als zwei Geschlechter. Wirf’ ein’ Blick in die Natur und du weißt, wer Recht hat.”((Sookee: Queere Tiere“))
Laut Duden Online nähern sich die Begriffe „das Zweite“ und „das Andere“ an, wenn es nur zwei Wesen oder Dinge gibt, Stichwort Dualismus (= Gegensätzlichkeit, Zweiheit). Es stellt sich mir einmal mehr die Frage, warum der Originaltitel nicht wortwörtlich ins Deutsche übersetzt wurde, wenn die Begriffe in Bezug auf de Beauvoirs Werk fast synonym verwendet werden können.
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