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Wir haben Raketen geangelt

Als Karen Köhlers letztes Jahr ihren ersten Roman Miroloi veröffentlicht hat, bekam dieser viel Aufmerksamkeit im Feuilleton – was die Journalistin Dana Buchzik dazu veranlasste, für das Goetheinstitut die deutsche ergo männliche Literaturkritik zu hinterfragen (siehe Dystopien, Parabeln und männliche Beissreflexe). Um mir selbst eine Meinung zu bilden, habe ich mit Köhlers Erstlingswerk von 2014 angefangen: Wir haben Raketen geangelt. Streng genommen kann es nicht als ihr Debüt bezeichnet werden, da sie nach ihrer Schauspielausbildung bereits Texte fürs Theater geschrieben hat – ein Einfluss, der auch in den Kurzgeschichten deutlich zu spüren ist.

Ton, Text, Bild

Wir haben Raketen geangelt ist eine Sammlung aus neun Kurzgeschichten, die in Länge und Format stark variieren, aber durch eine weibliche Ich-Erzähler zusammengehalten werden. An Theatertexte erinnert das fragmentarische Erzählen, indem die Leserin in die Szenen hineingeworfen wird, ohne dass diese auf- oder abgebaut werden. Dies findet sich auch in der formalen Gliederung wieder, die teilweise durch Zahlen, Daten oder Hashtags vorgenommen wird. Aufzählungen, z. B. von Songtexten, unterstützen diese Zerstückelung und fügen den Texten eine Soundebene hinzu. Es wird gebrüllt, gerufen, geweint und wenn das Telefon klingelt, liest man „Ring. Ring. Ring. Ring. Ring. Ring.“ Da ich nicht der Generation Karen Köhlers entspringe, müsste ich mir den Soundtrack zu ihren Geschichten eigentlich anhören. Weil ihnen über die Aufzählung hinaus keinerlei Bedeutung zukommt, bleiben sie für mich stumm und fragmentarisch.
Intermediale Bezüge gibt es allerdings nicht nur zu Musik, sondern auch zum Film. Als die weiße Heldin Kat aus „Cowboy und Indianer“ vergewaltigt wird, denkt und zitiert sie Bruce Lee, den Archetyp der westlichen Vorstellung von Kung Fu. Filmische Bildsprache nutzt Köhler auch in der Skizzierung ihrer Szenen, wofür ihr wenige Sätze reichen:

Ich sitze am Steuer eines Pickup-Trucks, neben mir sitzt ein Indianer, der Schnee im Herbst heißt und der meinetwegen kaputte Augen hat. Gelbe Streifen springen uns aus der Dunkelheit an. Sie machen Meditation. Ich nicht, ich kurble das Fenster hoch.

Cowboy und Indianer, S. 59, H. i. O.
Ikonische Bilder zwischen Schwarz und Weiß

Dabei entstehen diese Bilder nicht durch sprachliche Finesse, sondern durch das ikonische Potenzial der Szenen. Kurze, einfache Sätze mit viel Umgangssprache in der direkten Rede und vereinzelten Wortschöpfungen, wie die „[…] Beschissenheit der Welt […]“ (Cowboy und Indianer, S. 73). Zwei Seiten reichen aus, um eine Situation zu zeichnen. Aus der Perspektive von fünf Töchtern und einem Sohn skizzieren die sechs „Familienportraits“ dysfunktionale Familien, denen jede(r) Leser*in schon einmal begegnet ist: den verstummten Eltern, der Stadt-Land-Problematik gepaart mit einem Generationskonflikt, … Auch die Bilder, die Köhlers Erzählungen aufrufen, sind nicht neu: krebskranke Frauen in einsamen Krankenzimmern, eine verlassene Tankstelle in der amerikanischen Wüste, mit der Vespa durch Europa. Durch die Ich-Erzählung werden die klischeehaften Perspektiven nicht gebrochen, wodurch die Protagonistinnen nicht an Sympathie gewinnen. Sie sind enttäuscht, verletzt und vor allem wütend. Sie nehmen sich selber als Indianer (nicht Indianerinnen) wahr, als Underdogs, die mit ihrer Wut alleine sind. Gründe dafür werden nur vereinzelt angedeutet und eine intensive Auseinandersetzung oder Entwicklung ihres Gefühlslebens bleibt aus.
Obwohl Kat in „Cowboy und Indianer“ reflektiert, „[…] dass man nicht Indianer und Eskimo sagen soll“ (S. 39), löst sich das unwohle Gefühl der Aneignung nicht auf und die Erzählung bleibt im Klischee ‚Indianer mit Knochenhemd und Tomahawk‘ verhaftet. Der Indianer als allwissender, naturverbundener Underdog mit heilenden  und spirituellen seherischen Fähigkeiten bedient eine kindliche Fantasie. In diesen Gegensätzen von Cowboy und Indianer, Schwarz und Weiß oder dem Vergleich mit H. G. Wells Morlock und Eloi bleibt das Spektrum aller Figuren gefangen: Es gibt falsch und richtig, keine Grauzonen, keine Selbstreflexion.

© klit.COLOGNE
Über Tod und Trauer

Thematisch verbindet die Geschichten die Problematik des Loslassens: von gestorbenen Menschen, von traumatisierenden Geschehnissen, von dysfunktionalen Beziehungen. Dies führt nicht zuletzt zu theatralischen Momenten, die überzeichnet wirken: Eine Trauernde, die am Todestag ihres Partners ein Licht auf das Meer setzt und es anbrüllt („Wir haben Raketen geangelt“). Ohne Wind und Wellengang, auf den man keine Kerze setzen könnte, verliert das Anbrüllen schnell an Dramatik und kippt in Verzweiflung um.            
Sowohl durch formale Eigenschaften als auch die Thematik des Loslassens lesen sich die Kurzgeschichten fast wie ein zusammenhängendes Buch. Dies wird durch explizite Bezüge verstärkt: So fallen die Begriffe des Cowobys und Indianer fünf Geschichten später erneut und weitere Figuren idealisieren die Naturverbundenheit als Urzustand: „Ich schlage meine Wurzeln in den Boden. Ich bin Unkraut.“ (Starcode Red, S. 186). Passend schließt daher die letzte Kurzgeschichte, Findling, den Band ab: Ein Lebensrückblick, der in letzter Konsequenz den „Urzustand“ weiterdenkt und mit dem Blick von außen konfrontiert.

Zur Autorin: Karen Köhler studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Bern. Im Hanser Verlag sind Wir haben Raketen geangelt (2014) und Miroloi (2019) erschienen. Hier findet ihr einen Ausschnitt aus Wir haben Raketen geangelt, von Karen Köhler gelesen.

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