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Perspektitten

Aus dem Alltag einer weiblich gelesenen Person

Ich wache auf. Puh, denke ich, ich bin in der Nacht nicht aus dem Schlaf gerissen worden. Schnell schaue ich mich um, keiner da. Gut, denke ich und lasse mich noch einmal in die Federn fallen. Es ist irgendein warmer Sommermorgen zu irgendeiner Uhrzeit und meine Wohnung ist so aufgeheizt, dass ich mit offenem Fenster schlafen muss, um immerhin etwas Luft zu kriegen. Leider wohne ich im Erdgeschoss. Ich schaue auf meine Fensterbank und stelle fest, dass alles noch dort ist, wo ich es hinterlassen habe. Ich habe zwei Fenster, die direkt nebeneinander sind. Wenn also ein Fenster gekippt ist, lässt sich von außen ganz leicht durch den Spalt greifen und das andere Fenster weit aufmachen. So kann Mann zum Beispiel ganz leicht in meine Wohnung gelangen. Ich weiß das genau, weil ich so das ein oder andere mal in meine Wohnung gekommen bin, nachdem ich mich ausgesperrt hatte. Praktisch für solche Fälle, im Sommer einer meiner Angstherde. Ich bin schon einmal mitten in der Nacht aufgewacht, weil sich ein fremder Mann neben mich gelegt hat. Wie lang er dort lag, was er gemacht hat etc. weiß ich nicht. Ja, das war auf einem Zeltplatz und nicht in meiner Wohnung aber die Angst begleitet mich seitdem. Ich vertraue mir nicht, dass ich in einem Notfall aufwachen würde, dass ich Bewegungen wahrnehmen würde. Und so stelle ich in jeder Nacht, die ich mit offenem Fenster schlafe, eine Armada von Gegenständen auf die Fensterbank. Alle groß, bestenfalls aus Metall oder Glas, alle so ausgewählt, dass sie einen enormen Krach auslösen, sollte sich jemand Fremdes Zugang durch die Fenster schaffen wollen. Ich hoffe, dass ich dann aufwachen sowie die Person vom Krach abgeschreckt würde. Und so ist mein letzter Gedanke, bevor ich schlafe: „Hoffentlich passiert diese Nacht nichts. Und falls doch, hoffentlich wache ich rechtzeitig auf.“ Mein erster Gedanke am Morgen ist dann meistens: „Zum Glück ist nichts passiert.“ 

Nach dem Aufwachen schleppe ich mich aus dem Bett ins Badezimmer. Natürlich, nachdem ich das Fenster geschlossen und mich versichert habe, dass die Wohnungstür abgeschlossen ist. Wenn ich nackt unter der Dusche stehe oder nackt aus der Dusche rauskomme, soll mich niemand überraschen können. Da hat der Film Psycho wohl seinen Teil zu beigetragen.

Dann ziehe ich mich an. Dieser Vorgang ist stets begleitet von der inneren Diskussion zwischen dem, worauf ich Lust habe, und den Erinnerungen daran, was ich mir in dem Outfit schon alles anhören musste. Die Geschichten verschwimmen. Ist das zu sexy? Zeige ich zu viel Haut? Aber ich fühle mich wohl, außerdem soll es sehr warm werden, ich werde mir doch wohl nichts Längeres anziehen, nur weil sich Männer nicht kontrollieren können, oder? Jeden Morgen dieselbe Diskussion. Schließlich ziehe ich meistens irgendeine Mittellösung an. Nicht das ursprüngliche Outfit, aber auch nichts, was ich gar nicht will. Irgendein Kompromiss. Ok, das T-Shirt ist bauchfrei? Dann kann die Hose nicht auch noch zu kurz sein. Und jeden Morgen bin ich sehr genervt, dass ich nicht einfach das anziehen kann, was ich will. Kann ich schon, aber dann kann ich mir auch viel dazu anhören. Nicht von meinen Freund:innen oder Arbeitskolleg:innen, sondern von fremden Männern auf der Straße. Oder sonst wo.

Nach diesem Aushandlungsprozess mache ich mich auf den Weg zur Bahn. Ich muss zur Arbeit und die Bahn ist die beste Option für mich. Ich warte kurz an der Bahnhaltestelle, manchmal mit Kopfhörern in den Ohren und Musik auf voller Lautstärke, weil ich schon gar keine Lust habe, etwas von meinem Umfeld mitzubekommen. Sollte irgendwer einen dummen Spruch machen, will ich ihn gar nicht hören. Manchmal stehe ich aber auch aufmerksam und in Bereitschaft mich verbal zu verteidigen, sollten Kommentare oder ähnliches kommen. Schließlich fährt eine Bahn ein und ich betrete den Wagon. Es ist einiges los, viele Sitze sind bereits besetzt. Shit, denke ich. Ich muss schon eine Weile fahren und würde mich gern setzen. Allerdings sind nur noch die Sitze ganz hinten in der Bahn frei, die, auf denen man mit dem Rücken zum restlichen Wagon sitzt und auf die Scheibe zur Fahrer:innenkabine blickt. Die ist jedoch leer, da die Bahn in die andere Richtung fährt. Schwierige Plätze, denke ich und wiege ab. Setze ich mich dort in die Ecke, fühlen sich manche Männer eingeladen, sich neben mich zu setzen und mir den Weg zu versperren. Sitzt du in dieser Ecke und es setzt sich jemand neben dich, hast du verloren. Das ist mir auch schon mehrfach passiert. Dann wird gegrapscht, gelabert, Macht ausgespielt. Ich habe aber auch keine Lust, die ganze Zeit zu stehen, und so gehe ich das Risiko ein. Natürlich ist die ganze Zeit über mein Körper in voller Anspannung. Es ist doch tagsüber, denk ich und versuche mich damit zu beruhigen. Nachts würden mich keine zehn Pferde dazu bringen, mich in diese Ecke zu setzen. Die Bahnfahrt über geht alles gut und ich steige schließlich an einer Haltestelle aus.

Die Arbeit verläuft unauffällig. Klar, sexistische Kommentare meiner Kollegen oder meines Chefs bin ich gewöhnt. Irgendwer kommentiert dein Outfit, egal was du trägst. Aber natürlich nur das der weiblich gelesenen Personen. Die Männer könnten nackt auf der Arbeit herumlaufen und sie würden dir dennoch augenzwinkernd mitteilen, dass „dein T-Shirt ja nen ziemlich weiten Rückenausschnitt hat“. Unsere Büros lassen sich über einen Aufzug und über das Treppenhaus erreichen. „Na, trainierst du mal wieder deinen Arsch?“, fragt mich ein Kollege, nachdem ich von der Mittagspause die Treppen zu unserer Etage erklommen bin. Ich beiße mir auf die Lippen und verkneife mir zurückzublaffen, dass es natürlich nur darum geht, wie fit ich bin und nicht darum, dass Aufzüge ein weiterer Angstherd sind. Standest du schon einmal in einem Aufzug, allein, ein Mann kommt rein, lächelt dich an, die Aufzugtüren schließen sich, fängt an dich zu belästigen und du kannst bis zur nächsten Etage nichts machen. Egal auf welche Art und Weise. Ich antworte gar nichts und denke nur, dass ich mir nach dem letzten Mal geschworen habe, nicht mehr alleine Aufzug zu fahren. Ich will mich gar nicht beschweren, denke ich, in meinen Gedanken bei meinem Job davor: die Gastronomie. Da passieren dir Dinge. Da ist es doch fast noch fair, jetzt nicht mehr Aufzug zu fahren. Wenn frau in der Gastro arbeitet, machen dir Menschen einfach die Hose auf, fassen dich an und lachen dich aus, wenn du dich darüber beschwerst… Du wirst degradiert zu einer „Süßen“, einer „Maus“, einem „Mädel“, zu einer „Lady“ – ich glaube ich kann die ganzen Spitznamen gar nicht mehr alle zusammentragen. Ich schüttele mich, bei den Gedanken und setze mich wieder an meine Arbeit.

Abends, nach der Arbeit, bin ich noch verabredet. Schnell will ich noch Bargeld abholen, bevor ich meine Verabredung treffe und betrete daher den Vorraum einer Bank. Es gibt zwei Geldautomaten, die mit wenig Abstand nebeneinanderstehen. Ich stelle mich also an einen und fange an, Geld abzuheben. Gerade als ich meine Karte entnehme und auf mein Geld warte, kommt ein Mann herein und ich höre, wie er hinter mir steht und sagt: „Mensch, was bist du denn für eine geile Sau!“ Mein ganzer Körper spannt sich an und ich versuche die Situation zu scannen. Gut, du bist in einem Vorraum, am anderen Ende des Raumes ist die Tür. Der Mann steht also zwischen dir und deinem Ausgang. Ich könnte also so tun, als habe ich nichts gehört und darauf hoffen, dass sich der Mann den anderen Geldautomaten aussucht, mich in Ruhe lässt und ich dann schnell verschwinden kann. Ich könnte mich auch umdrehen und ihm klar machen, dass man so nicht mit fremden Menschen spricht. Aber er sperrt meinen Fluchtweg ab. Männer reagieren nicht besonders freundlich darauf, wenn man sie auf ihr Fehlverhalten hinweist. Die meisten werden aggressiv. Gerne auch handgreiflich. Keine Option, denke ich also. Und tue so, als habe ich seinen Kommentar nicht gehört. Langsam und in höchster Anspannung stecke ich mein Geld und mein Portemonnaie weg. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich der Mann an den anderen Geldautomaten stellt und immer wieder zu mir herüberschaut. Ich drehe mich weg, gehe sehr schnell zur Tür und verlasse den Vorraum. Puh, denke ich. Und gleichzeitig bin ich so wütend. Jeden einzelnen verdammten Tag. Jeden Tag dieses Machtspielchen, jeden Tag bin ich wütend darüber, dass ich mich nicht ordentlich „gewehrt“ habe. Ich habe mich beschützt, aber wenn ich wirklich etwas sagen würde, in einer solchen Situation, dann würde ich körperlich vermutlich nicht unversehrt daraus hervorgehen. Und natürlich ist auch niemand anderes in diesem Vorraum gewesen, der/die mir hätte helfen können. Naja, selbst wenn andere Menschen eine solche Situation mitbekämen, die wenigsten mischen sich ein und fragen, ob sie etwas tun können. Die meisten ignorieren es. 

Und so gehe ich wütend, traurig, verzweifelt, verängstigt zu meiner Verabredung und hoffe auf Ablenkung. Die kriege ich auch. Und dann bin ich spät in der Nacht wieder unterwegs auf dem Rückweg. Den Schlüssel in meiner Hand geballt, manchmal ein Pfefferspray in der anderen. Manchmal ins Handy den Notruf schon eingetippt, wenn mir jemand folgt. Manchmal telefoniere ich mit einer Person, weil ich Angst habe. Manchmal tue ich auch nur so, als würde ich telefonieren. Und wenn ich es ohne weiteren Zwischenfall nach Hause schaffe, dann liege ich in meinem Bett, bei offenem Fenster und hoffe, dass diese Nacht nichts passieren wird. Und wenn doch, dass ich früh genug aufwache.

„Hast du mitbekommen? Die Freundin von dem und dem wurde vergewaltigt und ermordet und der Typ ist ihr scheinbar den ganzen Weg vom Club nach Hause gefolgt, heimlich, um sie kurz vor ihrem Zuhause anzugreifen.“ Ja, das habe ich mitbekommen. Jede dieser Geschichten bekomme ich mit. Jede macht mir Angst.

Und die Angst ist das, was mich jeden Tag, meist von morgens bis abends begleitet. Die Angst, die mir eingepflanzt wurde durch die Täter. Selbst wenn eine Woche vergeht, in der mir niemand einen dummen Spruch drückt, niemand hupt, niemand mich körperlich bedrängt, bin ich jederzeit in Bereitschaft. Jeden Tag denke ich über mögliche Gefahrensituationen nach.

Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht über sexualisierte Gewalt nachdenke. In meinem Alltag spielt Prävention unfreiwillig eine sehr große Rolle und doch sind mir schon sehr viele Dinge passiert. Prävention bringt unter dem Schnitt nämlich leider sehr wenig, wenn sich jemand in den Kopf gesetzt hat, dich zu bedrängen, Macht auszuspielen oder sexualisierte Gewalt anzuwenden. Und so ist mein Alltag nicht nur von der Angst, sondern auch von der Gewalt durchtränkt.

Du verhältst dich falsch, in einem Moment. Mich begleitet das mein Leben lang. 


Zur Sprache auf diesem Blog: Immer, wenn wir Genderbezeichnungen nutzen, beziehen wir uns gleichermaßen auf trans wie cis Menschen. Uns ist bewusst, dass die von uns verwendeten Begriffe soziale Konstrukte sind und es mehr als zwei Geschlechter gibt. Um gendersensible Sprache zu verwenden, nutzen wir den Doppelpunkt. Falls wir über eine Person schreiben, die sich eine andere Selbstbezeichnung wünscht, verwenden wir diese.

Schwarz wird großgeschrieben, da dies nicht für eine Hautfarbe, sondern politische Selbstbezeichnung steht. weiß wird kursiviert, da es sich dabei um eine privilegierte Positionszuschreibung handelt.

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