Modeindustrie,  PerspekTITTEN - Ansichten einer XXX,  Salonthema

PerspekTITTEN: Ein migrantischer Blick auf die Modeindustrie

Mode ist nicht nur ein politisches, sondern auch ein persönliches Thema. Der Modekonsum und ich, das ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Ich will also chronologisch vorgehen, um all die Irrungen und Wirrungen zu deuten, die meine „textile Perspektive“ geprägt haben.

Der Anfang

Geboren und die ersten achteinhalb Jahre aufgewachsen bin ich in der ehemaligen Sowjetunion. Rückblickend war es denkbar trist, was die modische Perspektive anbelangt. Kleidung war damals recht teure Mangelware. Allerorts fällt in Bezug auf fast alle Konsumgüter das Wort „Defizit“. Ich habe als Kind keine Ahnung, was das heißt, aber spüre unentwegt, was es bedeutet. 

Blitzlichter: Kleidererbstücke zwischen allen 26 Cousins und Cousinen kursierend, wenig Auswahl, viel Einheitsbrei, ständiger Mangel, Nähimprovisation der Frauen, Schuluniform mit Gardinenanteilen, meist biberbettwäscheartiger, fester und eher schwerer Stoff, fast leere, hässliche Läden und Regale ohne Auswahl, bescheiden schmucke Sonntagskleidung, häusliche Alltagskleidung mit Löchern, Lieblingskleid mit Erdbeeren darauf, welches aufgrund der geringen Auswahl auf dem Textil-Markt gleich zwei andere Cousinen ebenfalls besitzen, ungeschriebene Kleidervorschriften, denn Frauen und Mädchen schmückt am Ende nur Kleid und Rock wirklich, binäres Menschenbild ist das einzig existente, zumindest kein rosa-blauer Farbterror, leider aber auch keine Funktionskleidung. 

Es war seinerzeit die einzige und mir so vertraute Normalität. Rückblickend bleibt vor allen Dingen das Erleben des ewigen Mangels, obwohl es mir, trotz bescheidener Auswahl, dennoch kaum an etwas fehlte. Es prägt mich bis heute. Als ich im Zuge der ersten Lockdown-Maßnahmen zu Beginn der Corona-Pandemie erste Schlangen vor den Geschäften sehe, spüre ich Furcht.

Die Ausreise – erste Zäsur 

Wir reisen 1991 aus. Verlassen die UdSSR in Richtung der von meinem Vater glühend verehrten und herbeigesehnten BRD. Die BRD versorgt ihre sogenannten „Volksdeutschen“ damals verhältnismäßig gut. Ja, so lautete der Volksterminus des Bundesverwaltungsamtes seinerzeit wirklich. Der Lufthansaflug und eine kleine Containerbox mit Habseligkeiten werden für die gesamte Familie bezahlt. Bei Ankunft gibt es Aufnahmelager mit Vollversorgung und einem deutschen Pass als Begrüßungsgeschenk, weil wir vorab unsere deutsche Herkunft als Russlanddeutsche wohl glaubhaft belegen konnten. Im ersten Aufnahmelager und der ersten Notunterkunft erhalten wir als Erstausstattung neue, einfache Textilware für alle Familienmitglieder. Bettwäsche und Handtücher satt.

Wir sind Spätaussiedler, leben am endgültigen Wunschwohnort nahe der bereits übergesiedelten Verwandtschaft, erhalten sofort sämtliche Sozialleistungen. Meine Eltern besuchen bezahlte Sprachkurse, die ihren mündlich tradierten, altdeutschen Dialekt ein wenig abschwächen, ihre Bildungsferne kompensieren und die Schriftsprache stärken sollen. Mein Bruder und ich landen als erste und einzige „Russen“ und sogenannte „Nullsprachler“ inmitten westdeutscher Grundschulklassen. Wir fallen auf. Wir sehen anders aus. Unsere Klamotten sind weder mit Disney-Motiven gespickt noch enthalten sie sonst irgendein begehrtes Detail der frühen Neunziger. 

Der Neuanfang

Wir fangen ganz von vorne an. Nahezu komfortabel im Vergleich zu den geflüchteten Menschen, die aktuell nach Deutschland kommen. Aber meine Eltern sind im Zwist. Das waren sie schon vorher, denn meine Mutter wollte nicht weg von ihrer geliebten Familie, ihren sieben Geschwistern. Mein Vater drohte und setzte ihr mit körperlicher und seelischer Gewalt zu, endlich der Ausreise zuzustimmen. Der Anfang ist hart. Gemeinschaftsunterkünfte, Armut zu Hause und permanent zur Schau getragener Überfluss der hiesigen Gesellschaft. In allen Belangen. Aber alles kostet. Alles hat einen Preis. Es ist da und nah, aber das Portemonnaie klein und schmal.

Die Erwachsenen stellen fest: „Drüben hatten wir lauter hübsche Scheine und nichts zu kaufen, hier gibt es alles zu kaufen, aber leider fehlt das Geld.“ Ernüchtert erkennen sie zudem: „Drüben waren wir immer die faschistischen Deutschen, hier sind wir immer die dummen Russen.“ Das wiederholen sie oft. Ich höre zu und merke auch mit neun Jahren, dass das eher niederschmetternde Erkenntnisse sind. Da sind nun also die gleichzeitig hadernden, integrationsausgelasteten und insgesamt überlasteten Auswanderereltern. Vater schweigt, wütet und kompensiert den Identitätsverlust mit Alkohol. Mutter leidet. Und wir Kinder? – Versuchen all die Veränderungen zu verarbeiten und staunen. 

Das Staunen in Kinderjahren

Ich staune über all die Neuwaren, die unzähligen Schaufenster, die omnipräsente Werbung … Ich staune regelmäßig über die mit „besten“ Möbeln gefüllte Straßenränder, denn der neuwertige sowjetische Einheitsbrei sah dagegen einfallslos aus. Gute, intakte Möbel. Entsorgt, weil man schlicht Lust auf etwas Neues hatte oder weil eine Kleinigkeit repariert werden müsste. Damals fühle ich mich erschrocken: Wie krass und kaputt ist das? Heute erschrecke ich darüber, wie kapitalistisch verdorben ich bin, dass sich dies kaum noch seltsam anfühlt. 

Mein Bruder und ich sind tagsüber weitgehend auf uns gestellt. Gerade in den Ferien, denn Urlaube oder Ganztagsschulen gibt es nicht. Also ziehen wir los, schleppen an, was geht und kundschaften aus, wo etwas Großartiges zu holen ist. Irgendwann hören wir in der Spätaussiedler-Community vom Kolpingwerk und den Bergen an kostenlosen Klamotten. Die besten Öffnungszeiten mit der Anlieferung neuer Kleiderspenden kollidieren erst mit den Sprachkurs- und dann mit den Arbeitszeiten unserer Eltern. Also decken wir Kinder uns säckeweise ein. Wahre Goldgräberstimmung. Klamotten satt für null Mark. 

Der Überfluss an Nahrung, Fernsehkanälen und unbetreuter, bewegungsarmer Zeit hinterlässt allerdings auch Spuren und mein Bruder und ich nehmen kontinuierlich zu. Über die Deutschen staunen wir, weil sie so geizen und ihren Kindern die Süßigkeiten verbieten, oder diese rationieren. Wir hingegen kriegen all das, was es „drüben“ nicht gab und das war so ziemlich alles aus dem Snack- und Süßigkeitenregal. Der ewige Verzicht soll passé sein. Unsere Eltern meinen es gut. Die Auswirkungen von Zucker und Ernährung sind ihnen unbekannt.

Mode wird folglich schon wieder schwierig. Mangel, entstanden aus mangelnder Passung an Kleidung für dickliche Kinder. Mit der Zeit schleicht sich dadurch eine Scham in das Thema Kleidung. Außerdem erwächst über die Jahre die Erkenntnis, dass wir schlechtsitzende Reste oder Discounterware tragen, kulturelle Codes nicht kennen oder sie uns nicht leisten können. Die Ehe der Eltern geht in die Brüche. Sie haben den persönlichen Exodus nicht als Paar überlebt. Das Geld derweil wird zentral. Meistens, weil meine alleinerziehende Mutter im Einzelhandel tätig ist und keines hat, während mein Vater zunehmend giert und geizt. Gelegentliche Ausflüge zu C&A fühlen sich an wie Urlaub vom Alltag und wahre Gönnung à la Düsseldorfer Kö. 

Die Jugendjahre

Das meiste zusammengekratzte Geld geht für günstige Klamotten drauf. Ich bin eine dicke Jugendliche. Petite noch dazu. Hosen kaufen ist ein Graus. Ein gutes Gefühl für die Industrie und ihr Angebot noch nicht vorhanden. Der schlechte Geschmack die Regel. Vorbilder existieren in meiner Umgebung einfach nicht, Social Media ebenfalls noch nicht. Es reift die Erkenntnis, dass die mich umgebenden Spätaussiedlerinnen aufgrund des sozialistischen Konformitätsdrucks weder über Modegeschmack noch irgendein Fünkchen Individualität zu verfügen scheinen. Mama kann nicht wirklich helfen. Meine Freundinnen haben oft den gleichen Background und damit die gleichen Probleme. Also versuche ich mich an den hiesigen Jugendlichen zu orientieren. Preise und meine mehrgewichtige Statur machen es immer schwerer. Aber Shoppen ist eine famose Ablenkung. Ausweichschauplätze der Modeindustrie machen es mir zudem möglich, viel Geld für Accessoires, insbesondere Taschen und Modeschmuck zu versenken. Als Levi‘s im Supermarkt meiner Mutter eine Tranche der 501er-Neunzigerjahrekulthose auf den Grabbeltisch wirft, fasst meine Mutter sich ein Herz und gönnt ihrer 13-jährigen Tochter ihr erstes Markenprodukt. Ganze 69 D-Mark (statt 110!) für eine Jeans. Immer noch dreimal so teuer wie die sonstigen Hosen und zu lang, aber eine Markenhose. Ich schwebe auf Wolke 7. Einer befreundeten Nachbarin dränge ich mich damit sogar auf, indem ich bei ihr klingele und sie freudestrahlend auffordere, mein neues, mich in den Modehimmel katapultierendes Wunderbeinkleid mit Anerkennung zu würdigen. Verblendeter Wahnsinn, aber Marketing und Peer-Pressure machen es möglich.  

Das erste Geld

Seit meinem 12. Lebensjahr jobbe ich. Erst Zeitungaustragen, dann Putzen, im Studium bis zu fünf variierende Jobs parallel. Das Geld fließt und ich kaufe. Ich kaufe als Trost und als Belohnung. Als der Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ 2004 im Kino läuft, lebe ich das exakte Gegenteil. Ich reise, gehe aus, konsumiere Mode. Bedürfnisaufschub ist mir fremd, der Gedanke an morgen erst recht. Vorsorge, Umweltgedanke oder bewusster Konsum existierten in meinem Umfeld kaum. 23-Jährige mit Riester-Renten sind mir suspekt. Die Abkömmlinge der 68-er Generation ebenfalls. Alle „öko“, alternativ und voller Selbstgeißelung in einer Welt des Überflusses. Ich kehre doch nicht freiwillig in die modische und materielle Diaspora zurück! Ich produziere viele Schrankleichen, weil ich maßlos bin und weil ich mich und meinen Körper nicht kenne. Die Mechanismen der Modeindustrie haben in mir eine willfährige Mitstreiterin gefunden, ohne, dass ich sie überhaupt bewusst wahrnehme oder mich informiere. Weil Bildung mir den ökonomischen Aufstieg in Aussicht stellt, ackere ich hart, um als erste aus der ganzen Großfamilie eine Universität von innen zu sehen. Für meine Mühen belohne ich mich fürstlich mit Klamotten und setze alles auf Masse. Ich liebe die Opulenz und schaffe es fast jeden Monat, ungeachtet des enormen studentischen Einkommens, das Konto zu überziehen. Das stresst, aber ein Ausflug in die Stadt und ein Beutezug entspannen, um kurze Zeit später das schlechte Gewissen zu befeuern. Ein ähnliches Verhältnis entwickle ich auch zum Essen. Alles in mir sträubt sich gegen jegliche Form des selbstauferlegten, vermeintlich unnötigen Verzichts. Nachhaltigkeit existiert in meiner Lebenswelt zu dieser Zeit höchstens in Bezug auf Mülltrennung. Rückblickend empfinde ich diese Phase fast wie einen Konsumrausch, dem ich erlegen war. 

Die Mutterschaft – zweite Zäsur

Der Rausch hält noch eine längere Weile an. Das erste Geld geht mit knapp 30 Jahren in festes Einkommen aus Erwerbsarbeit über. Die Möglichkeiten wachsen wegen Lohnarbeit und geteilten Kosten einer aufkommenden festen Partnerschaft. Mein Wunsch nach modischen Statussymbolen wächst gleichermaßen. Ich entwickle nebenbei auch noch eine Leidenschaft für Make-Up. Wenn schon keine echte Chanel-Bag drin ist, dann doch wenigstens ein überteuertes Kompaktpuder des Hauses mit den hübschen zwei Cs. Wir entschließen uns zu heiraten, ein Nest zu erwerben, Kinder zu kriegen. Die Einrichtungswelt ist zwar auch kostspielig, aber irgendwann steht da eben ein Sofa und dann braucht man kein zweites. Aber die Erstausstattung für Kinder ist ein ganz anderes Kaliber. Ich übertreibe, weil es geht. Nachdem ich jahrelang in den Modeabteilungen für Frauen einiges umgestoßen habe, ist nun die Babywelt an der Reihe und die ist noch perfider. Ich lese zum ersten Mal von über 50 Euro teuren Seiden-Bodys aus nachhaltigster Produktion. Das erscheint selbst mir zu drüber für die paar Monate, die dieser getragen wird. Aber ansonsten konkretisiere ich die völlig surreale Vorstellung von einer bevorstehenden Mutterschaft ganz dinglich mit Hilfe von etlichen Klamöttchen. Der Appell von erfahreneren Müttern, lieber gebrauchte Sachen zu besorgen, prallt an mir ab. Die Vernunft kommt nicht gegen die alten sozio-ökonomischen Wunden an. 

Erst nach der Geburt unserer Tochter und dem Gedanken daran, was ich eigentlich vorlebe, welche Welt die ihre sein wird, im Kleinen wie im Großen, bröckelt mein kindlicher Trotz langsam. Mein Körper zahlt für unsere zwei Kinder einen gesundheitlichen Preis. Die körperliche, emotionale, familiäre, monetäre und gesellschaftliche Last, die von Frauen in aller Welt getragen wird, wird mir nun bewusster denn je. Objektiv betrachtet, bin ich mit Job, Eigenheim, Familienleben privilegiert. Subjektiv hadere ich dennoch mit meiner neuen Rolle und merke, dass gerade aus dieser Position heraus, frei nach Alexandra Zykunov, Verantwortung für all jene weiblich gelesenen Menschen resultiert, die nicht über derlei Privilegien verfügen. Dazu gehört auch, mich zu fragen, wie lange ich durch meine Kaufentscheidungen dem System hinter Fast Fashion u.Ä. die Stange halte. Mit Mitte 30 fühle ich mich in dieser Hinsicht wie eine Spätzünderin. 

Das allmähliche Erwachen

Ich eigne mir Wissen an und entwickle ein besseres Händchen für Passformen und Kombinationen. Endlich schließe ich einen gewissen Frieden mit meiner Körperform und versuche, nicht mehr durch Kleidung zu kompensieren, indem ich mir einbilde, das Kaufglück ginge auf mein Sein über. Gleichzeitig verleibe ich mir Ausstellungen, Dokus, Artikel, Sachliteratur, You Tube-Clips, Vorträge und Insta-Beiträge zur Modeindustrie ein, um zu begreifen, wie ich von dieser in die Falle gelockt wurde. Ich will verstehen, wie sie es Hand in Hand mit der Kosmetik-Industrie schafft, in die DNA fast jeder Frau das Gefühl des Nicht-Genug-Seins einzuarbeiten.

Ich merke langsame Fortschritte, obschon ich weiterhin gelegentlich der Versuchung erliege und alte Trost- und Belohnungsknöpfe drücke. An einem Tag verkaufe ich vorbildlich gebrauchte Kinderklamotten bei Vinted, am nächsten Tag erliege ich einem Sale-Schnapper von garantiert verwerflicher Herkunft, dessen Schnitt aber gut zu meiner Körperform passt. Aber es wird bewusster, nachhaltiger, erfahrener, weniger exzessiv. Gebrauchte Sachen für die Kinder finde ich mittlerweile durchaus, aber nicht vorwiegend. Gebrauchte Sachen für mich zu finden, fällt mir aber aus oben genannten Motiven und Grundvoraussetzungen weiterhin nicht leicht.

Ich empfinde die Modeindustrie in unserer globalen Welt als komplex. Nichts kaufen, gebrauchte Textilien kaufen, nachhaltige Textilien recherchieren und kaufen, aber eben nicht konsequent – da sind diverse Möglichkeiten. Jede Entscheidung ist insofern ambivalent, als dass bei jeder Option negative Folgen unumgänglich scheinen. Trotz bester Absichten. Also setze ich mich mit den kleinen, individuellen Hebeln auseinander. Kunstfaser ist z. B. ein Komfort- und Umweltpunkt. Dass ich auf die Stoffbeschaffenheit achte und Polyverbindungen meide, ist erst seit einigen Jahren der Fall. Auf struktureller Ebene, also über meinen Handlungsspielraum hinaus, fühle ich mich verloren. Eventuell greift hier die Redewendung „Gut ist gut genug!“? Für mich ist das vorerst eine passable Melange und aktuell mein ganz persönlicher, fragiler Modefrieden. 


Zur Sprache auf diesem Blog: Immer, wenn wir Genderbezeichnungen nutzen, beziehen wir uns gleichermaßen auf trans wie cis Menschen. Uns ist bewusst, dass die von uns verwendeten Begriffe soziale Konstrukte sind und es mehr als zwei Geschlechter gibt. Um gendersensible Sprache zu verwenden, nutzen wir den Doppelpunkt. Falls wir über eine Person schreiben, die sich eine andere Selbstbezeichnung wünscht, verwenden wir diese.

Schwarz wird großgeschrieben, da dies nicht für eine Hautfarbe, sondern politische Selbstbezeichnung steht. weiß wird kursiviert, da es sich dabei um eine privilegierte Positionszuschreibung handelt.

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