Falle, unendlich
Eeva Parks erster Roman, der Thriller mit dem Originaltitel Lõks lõpmatuses erschien 2003, ein Jahr vor Estlands EU-Beitritt und verfolgt die Rückkehr der jungen Protagonistin Tiiu als trafficking-Opfer in die estnische Gesellschaft. Anhand von Rückblenden erfährt die Leser*in von ihrem Weg in die Zwangsprostitution sowie ihrer Flucht und stellt die Frage, nach einem Leben danach. Die deutsche Übersetzung von Irja Grönholm wurde als Falle, unendlich 2008 im ihleo Verlag herausgegeben.
Handlung des Thrillers
Ich wusste gar nicht, dass ich Schnee mag. Im Grunde weiß ich überhaupt nichts mehr. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich überhaupt noch ich selber bin.
S. 7
Mit diesen Sätzen macht Eeva Park von Anfang an deutlich, dass dies keine einfache oder angenehme Geschichte ist – im Gegenteil: sie ist brutal und unerbittlich. Inmitten eines Vororts Tallins versucht die Protagonistin Tiiu unter Obdachlosen, Drogenabhängigen und Straßenkindern zu überleben. Die Erzählung beginnt als Tiiu einen alten Schulfreund Marko kontaktiert, um eine Waffe zu kaufen. Durch Rückblenden erfährt die Leser*in von Tiius Aufwachsen in einem Post-Sowjet-Estland, den Freundschaften mit Heti und Marko und einer gemeinsamen Reise durch Europa. Trotz dieser fröhlichen Erinnerungen an eine unbeschwerte Jugend führt der erste Teil, Der verschwiegene Wald, nur die Rückblenden an, die Tiius Schicksal erklären: das Erbe eines Briefmarkenalbums führt zu trafficking,1 Zwangsprostitution, Flucht und Rache.
Der Handel mit Körpern
Was im ersten Teil nur als Andeutungen eines Höllenlebens erklingt, wird im zweiten Teil, Professor von Toths Wanderzirkus, zusammengesetzt. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht auf der erlebten Zwangsprostitution in Deutschland, sondern der Flucht daraus und dem Leben danach: Welcher Mensch kann Tiiu noch sein? Kann sie mit diesem Trauma leben? Was bleibt von ihr übrig?
Es scheint, dass alles, was mit meinem Körper geschehen ist, bis aufs Letzte da ist. Vielleicht ist es ja gerade die Haut, die darauf beharrt, mich zu erinnern; an die Striemen der Fesseln, an die eingetrockneten Blutrinnsale und an die Muster, die die Schläge hinterließen. Die ältesten Schriften sind auf Haut geschrieben, und meine ist schon mehr als voll.
S. 13
Diese Auseinandersetzung mit dem Überleben zieht Park gekonnt auf eine körperliche Ebene. Nachdem anfangs die eigene Haut als Hülle, auf der unweigerlich Berührungen eingeschrieben sind, proklamiert wird, geht die Protagonistin im Zuge ihrer Flucht in die Ausstellung Körperwelten. Seit 1997 in Deutschland auf Tour werden dort plastinierte, d. h. konservierte Körper ohne Haut gezeigt, anhand derer man den anatomischen Aufbau des Körpers nachvollziehen kann. Mit „Professor von Toths“ wird wohl der Organisator der Körperwelten Gunther von Hagens nachempfunden, obwohl ihm eine deutlich negative Konnotation angestellt wird: Als Professor des Todes handelt er mit Körpern, genauso wie Tiius Zuhälter, die aus ihr ein „plastiniertes Ausstellungsstück“ (S. 205) machten. Auch der Begriff des Wanderzirkus verknüpft die Wanderausstellung mit harmloser Unterhaltung auf Kosten von herausfordernden, hier unmenschlichen und brutalen Arbeits- und Lebensbedingungen. Immer wieder wird auch der Körper als unüberbrückbare Trennung zwischen Tiiu und ihrer Umwelt inszeniert: sie stinkt, ist dreckig und abgemagert. Obwohl sie es schafft, dies durch Schminke und Kleidung zu verdecken, ist ihr klar, dass es weder für ihre Wahrheit noch ihr Trauma Platz in der estnischen Gesellschaft gibt.
Internationale Zusammenarbeit zum Menschenhandel
Und dann hat deine Mutter die Sache meines Wissens an die Polizei übergeben, und die teilten ihr mit, dass sie mit Interpol Kontakt aufnehmen würden, aber die Suche nach verschwundenen Personen sei sinnlos, und du würdest eines Tages garantiert aus Miami anrufen. Solche Sachen passieren angeblich jeden Tag.
S. 84
Das erste transnationale Abkommen der Vereinten Nationen, das Menschenhandel (human trafficking) als solchen festschrieb, war die Konvention zur Beseitigung des Menschenhandels und der Ausbeutung der Prostitution 1949.2 Dies wurde zuletzt durch das Palermo Protokoll von 2000 auf andere Ausbeutungsformen neben der Prostitution erweitert, z. B. um erzwungene Organspenden. Das Protokoll legte ebenso weitere Faktoren fest, z. B. kann seitdem Ausbeutung trotz legaler Einreise oder einem generellen Einverständnis zur Prostitution als Menschhandel definiert werden.
Die Zahlen gehen zwischen Schätzungen und angezeigten, nachverfolgten Fällen stark auseinander: Schätzungen belaufen sich auf ca. 500.000 Frauen und Kinder, die jährlich in die/innerhalb der EU verschleppt werden. Das Bundeslagebild zum Menschenhandel von 2018 verzeichnet hingegen 356 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung mit Schwerpunkt in NRW, Berlin und Bayern.3 Von den 430 Opfer waren 96% weiblich, und nur 18,5% der Verfahren bezogen sich ausschließlich auf deutsche Betroffene, mit den drei stärksten Herkunftsländern Bulgarien, Rumänien und Nigeria. Die Statistik nennt weitere 552 Tatverdächtige in Deutschland.
Menschenhandel in Estland
Zum Erscheinen des Thrillers fehlte in Estland eine klare Gesetzeslage sowie ein staatliche Präventions- und Hilfsstrategie. Erst 2012 verabschiedete Estland als letztes Land in der EU ein Gesetz gegen Menschenhandel, nachdem dieser mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Während 2014 noch 234 Fälle von Menschenhandel verzeichnet wurden, sinkt die Anzahl (2017 noch 77 Fälle), wogegen der Anteil der russischsprachigen Minorität unter den Opfern ansteigt.4 Daher wird Estland zunehmend nicht nur als Herkunfts- sondern ebenso als Transitland wahrgenommen. Da estnische Opfer vor allem in nordische Länder verschleppt werden, hat im letzten Jahrzehnt die Zusammenarbeit durch den Nordischen Rat stark zugenommen.
Die International Organisation for Migration knüpft die hohen Opferzahlen aus dem Baltikum in ihrem Report 2005 explizit an Estlands Ablösung von der Sowjetunion.5 Die Transitphase habe mit einer schlechten wirtschaftlichen Situation und Idealvorstellungen des Westens eine große Anziehungskraft auf Osteuropäer*innen ausgeübt, was sich bis heute in den Statistiken niederschlage. Dieser Ost-West-Konflikt wird in Parks Thriller durch die Dominanz der osteuropäischen Personen überlagert: Tiiu wird von einem Esten verkauft, ihre Leidensgenossinnen sind aus Litauen und Russland, ebenso wie ihre Zuhälter. Der Westen wird anhand von deutschen Kunden nur in Nebensätzen erwähnt. Wesentlich mehr Raum erhält Tiius einzige ausführlich geschilderte Begegnung mit einer Deutschen, der alten Dame Marta Hardenberg, die ihr eigenes Trauma des Zweiten Weltkriegs nie überwunden hat.
Fazit
Lesenswert ist dieses brutale Buch, weil sich die zahlreichen Puzzleteile im hinteren Abschnitt des Buches verbinden und die Erzählung rasant an Fahrt aufnimmt. An keinem Punkt wird die Möglichkeit eines eigenen Verschuldens oder einer Scham thematisiert, sondern die Handlungsmacht Tiius – wenn auch reaktionär – verdeutlicht. Im Gegensatz zu Kriminalromanen, die trafficking als Thema behandeln6 gibt Park einer Betroffenen durch die Ich-Erzählung eine Stimme. Durch ihre Rache wird die Erzählung somit auch zur Bemächtigung eines Narrativs und schafft gleichzeitig Distanz zur Protagonistin, sodass die Leseerfahrung nicht allein auf Mitleid und Horror baut.
Zur Autorin: Eeva Park (* 1950, Tallinn) ist eine estnische Schriftstellerin und Übersetzerin, die 1983 mit einem Gedichtband debütierte und seitdem Lyrik, Prosa und Theaterstücke veröffentlicht. Falle, unendlich ist ihr erster und einziger ins Deutsche übersetzte Roman und wurde 2004 mit dem Eduard-Vilde-Preis ausgezeichnet. Hier findet ihr ein englischsprachiges Interview zu ihren Gedichten und hier könnt ihr euch eins im Original anhören.
Trafficking ist ein wiederholtes Thema in der nordischen Literatur. Neben Eeva Parks Thriller setzt sich z. B. auch Sofi Oksanens Roman Fegefeuer, 2008, mit den Konsequenzen einer Flucht aus der Zwangsprostitution in Deutschland auseinander. Weitere Beispiele, die sich mit dem Menschenhandel aus Nigeria nach Europa beschäftigen, sind Akachi Adimora-Ezeigbos Trafficked, 2008, und Chika Unigwes Schwarze Schwestern (Klett 2010, On Black Sisters’ Street, 2009). Auch Indien und Nepal sind Spielorte für Romane, die sich mit Menschenhandel beschäftigen: Verkauft von Patricia McCormick, (Sold, 2008) thematisiert eine erzwungene Ehe wohingegen A Girl in Traffick von Mamta Jain Valderrama, 2017, von Organspende handelt.
- Die Vereinten Nationen definieren Menschenhandel als Anwerbung, Vermittlung, Beherbergung oder Anbieten von Menschen durch die Anwendung unerlaubter Mittel wie Täuschung, Zwang, Drohung oder Nötigung zum Zweck der Ausbeutung. [↩]
- Vgl. Lindner, Christoph, Die Effektivität transnationaler Maßnahmen gegen Menschenhandel in Europa, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, v. a. Kapitel 2; Stoyanova, Vladislava, Human Trafficking and Slavery Reconsidered. Conceptual Limits and States’ Positive Obligations in European Law, Cambridge: Cambridge University Press 2017, v. a. Kapitel 2, insb. Begriffsklärung. [↩]
- Vgl. Bundeskriminalamt (Hg.), Bundeslagebild Menschenhandel und Ausbeutung 2018, Wiesbaden 2019. [↩]
- Vgl. United States Department of State, Trafficking in Persons Report – Estonia, 28. Juni 2018, https://www.refworld.org/docid/5b3e0b49a.html , Zugriff am 19. Juni 2020; Richards, Tiffany, The Politics of Marginalisation: Identity and Human Trafficking in Post Soviet Estonia, Masterarbeit, Universität Tartu, 2015, S. 49. [↩]
- Vgl. International Organisation for Migration (Hg.), IOM Tallinn Project. Trafficking in Human Beings for Sexual Exploitation. An Analysis of the Situation in Estonia, Tallinn 2005. [↩]
- Z. B. Nevada Barr, Burn, New York: Minotaur Books 2010; Magdalen Nabb, Vita Nuova. Guarnaccias vierzehnter Fall, Zürich: Diogenes 2008. [↩]