Das beherrschte Geschlecht – Warum sie will, was er will
In „Das Beherrschte Geschlecht“, 2019 im Piper-Verlag erschienen, untersucht die Diplom-Psychologin Sandra Konrad, wie gut es tatsächlich um die Befreiung weiblicher, sexueller Selbstbestimmung im 21. Jahrhundert bestellt ist. Die passive Frau scheint längst Geschichte zu sein. Dennoch erlebt Konrad in ihrem Alltag und ihrer psychologischen Praxis unaufhörlich, dass das einschränkende und unterdrückende, von Männern auferlegte Rollenkorsett von einst, wirkungsmächtig fortlebt. Anhand ihrer Berufserfahrung analysiert sie die Wechselwirkung von männlicher Herrschaft und weiblicher Anpassung. Ist die Sexualität und das Rollenverständnis der Frau emanzipiert oder lediglich maskulinisiert, so dass am Ende und bis heute weiterhin gilt, dass gemäß dem Buchuntertitel „sie (immer noch) will, was er will“?
Konrads Analyse und ihr Ziel
„Es geht mir nicht um eine Hasschrift gegen Männer, sondern um eine gesellschaftspsychologische Aufarbeitung von Ungerechtigkeiten, die Männer per se zu Mittätern macht, ob sie wollen oder nicht. Dass ich in diesem Buch historische und aktuelle Missstände – unter denen beide Geschlechter noch immer leiden – und ihre Verbindung zueinander aufzeige, damit wir uns bewusst davon verabschieden können.“
S. 19
Die Losung dieser Tage heißt in unseren Breitengraden, dass Frauen sexuelle Wesen sein dürfen, nein, sein sollen. Enttabuisiert. Konrad spricht von einer „Konsensmoral“ à la „Alles kann, nichts muss“ (S. 22 f.). Nur seien die Frauen nicht wirklich frei in ihren Wünschen und Äußerungen, weil das, was als „normal“ gilt, über 2000 Jahre hinweg vornehmlich von Männern definiert und geprägt worden sei und sie kaum Trennschärfe zu dem ausbildeten, was ihnen selbst gefalle. Dies klingt für jene, die an feministischen Themen schon länger interessiert sind und sich dahingehend umgetan haben, nach wenig Neuem. Konrads Leistung besteht jedoch, ausgehend von der These, dass Sex mit Macht gleichzusetzen ist, in der facettenreichen, nachvollziehbaren psychologischen und psycho-historischen Gesamtbetrachtung des Machtgefälles zwischen den Geschlechtern, welches bedingt, dass „(…) sich eine versteckte bis offensichtliche Doppelmoral wie ein roter Faden durch die Geschichte der Sexualität (…)“ (S. 26) zieht.
Um das Ungleichgewicht herauszustellen, zeigt Konrad auf, wie Macht mit Lust zusammenhängt und dass weibliche Sexualität „(…) typischerweise gekennzeichnet war von einem Zuviel oder einem Zuwenig an Lust und seit jeher unter der Fuchtel des Mannes stand (…)“ (S. 32). Charcots sensationsheischende Hysterie-Lektionen, Miley Cyrus‘ freche Zunge oder Freuds Penisneid rekonstruiert die Autorin als prägende Puzzleteile, die als Manifestationen männlicher Herrschaft über die weibliche Sexualität normativ bestimmten und aus denen durch den Hype um die Jungfräulichkeit, die langwährende Fremdbestimmung in Verhütungsfragen und die immense anatomische Unwissenheit, mittlerweile weibliche Selbstbeherrschung wurde. Perpetuiert wird diese durch Mythen, Schönheitsideale und Normen. Gleichzeitig, und das ist die Perversion der Herrschaftsumkehr, fühlten sich junge Frauen ermächtigt und aufgewertet, wenn sie in der Lage seien, „Lustspenderin“ (S.136) für ihn zu sein. Sie deuteten die Überschreitung ihrer persönlichen Grenzen um, weil sie diese schlichtweg nicht selbstbestimmt ausloten könnten, „(…) sondern die Lust des Partners und seine Bewertung ihrer Performance (…)“ (S. 134) in den Vordergrund stellten. Dies ändert sich nach dem Dafürhalten der Autorin mit dem Älterwerden und dem Fokus auf verbindlichen Beziehungen.
Man wäre als Leser*in beinahe geneigt, einen Lichtstreif am Horizont der weiblichen Selbstbestimmung zu erhoffen, zumindest mit steigendem Lebensalter. Dieser verliert sich jedoch rasch, wenn Konrad anführt, weshalb die Sexindustrie so erfolgreich damit ist, mittels Pornografie und Prostitution eine klar hierarchisch organisierte Parallelwelt zur Gleichberechtigung zu erschaffen. Denn: „Die gesamte Sexindustrie basiert auf dem patriarchalischen Geschlechtervertrag: ‚Sie will, was er will.“ (S.148). Erschreckend wirkt hier, dass Konrad parallel zur gestiegenen Wertschätzung und Gleichberechtigung in Liebesbeziehungen „gegenläufige Prozesse“ (S. 149) ausbeuterischer und brutaler Sexualpraktiken konstatiert, die neue Normen des Möglichen schafften. Wohin führt dieser Exzess und wie wird er sich auf die ohnehin patriarchal beeinflusste Selbstbestimmung der Frau auswirken? Mit Nachdruck positioniert sich Konrad im Zuge dessen auch gegen das oft propagierte Mantra der Freiwilligkeit und der Anerkennung der Prostitution als Beruf:
„Prostituierte erfahren tagtäglich Stigmatisierung und diverse Formen von Gewalt. Immer wieder weisen Studien nach, dass Frauen, die sich prostituieren, dieselben Gefühle entwickeln wie vergewaltigte Frauen. Abgesehen davon wurden einer UN-Studie zufolge zwei Drittel aller Prostituierten schon von einem oder mehreren Freiern vergewaltigt.“
S. 215
Konrad legt anhand des skandinavischen Modells und dessen Entwicklung dar, dass Prostitution „kein notwendiges Übel“ ist und menschliches Verhalten und Werte abänderbar sein können. Konsequent zieht sie sich nicht auf den schmalen Grat der Freiwilligkeit zurück und erinnert daran, warum männliche und weibliche Sexfantasien in ihrer Inkorrektheit gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Sie trägt umfangreich zusammen, welche Ungerechtigkeiten (Hexenverfolgungen, Beschneidungen, Vergewaltigungen als Machtausübungsinstrument, sexuelle Gewalt in und außerhalb der Ehe, Cybergewalt, Sexting, Revenge Porn, S. 227 ff.) die Geschichte der Unterdrückung und Gewalt den Frauen antat und welche sich bis heute fortsetzen und beschreibt, wie beide Geschlechter versuchen, ihre Ohnmacht mit unterschiedlichen Mitteln abzuwehren. Inmitten dieser Dynamik engagiere sich die gesamte Öffentlichkeit für den Schutz der Frauen, die jahrzehntelang versuchten durchzusetzen, dass Grapschereien u. Ä. nicht verharmlost werden. Es brauche den Umstand, dass die Angreifer wie in der Silvesternacht von 2015/16 „von außen“ (S. 284) kamen, damit auch der letzte deutsche Mann begreife, dass ‘unsere‘ Frauen ein Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt hätten. Und wiederholt regiert die bodenlose Doppelzüngigkeit. Dass im Zuge von Sexismus-Debatten Frauen oft zu den heftigsten Kritikerinnen jener werden, die sexuelle Gewalt erfahren, nimmt Konrad als eine Spielart „weiblicher Komplizenschaft mit männlicher Macht“ (S. 336) in den Blick und zeigt somit einen weiteren Beleg für die Verinnerlichung männlicher Argumente auf, die zu unsolidarischem Handeln und der Verfestigung des Status‘ quo von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen führt. Weshalb dienen sich Frauen in nahezu vorauseilendem Gehorsam der patriarchalen Welt derart an?
„Weil sie noch immer in einer Welt aufwachsen, in der sie lieber gefallen als bestimmen wollen und in der der männliche Blick wichtiger als der weibliche Wille ist. Weiblichkeit entsteht noch immer aus dem Blickwinkel des Mannes, und während die Frau seine Bestätigung sucht, entsteht die chronische Verunsicherung ihres eigenen Körper- und Selbstwertgefühls.“
S. 347
Fazit
Die gänzlich passive Frau scheint längst Geschichte zu sein. Doch Konrad entlarvt diese Sichtweise durch ausführliche, psycho-historische Erklärungsansätze und die Auswertung aktueller sexualwissenschaftlicher Forschung sowie Interviews mit jungen Frauen als Mythos. Dem Idealbild der modernen Frau entsprechend, fühlten sich Frauen heute meist frei und mächtig, was ihnen nur durch die Verleugnung aller auferzwungenen Ideale, Ungerechtigkeiten und „(…) die Ablehnung der eigenen Schwäche (…)“ (S. 349) gelänge. Das weibliche Geschlecht folge bis heute dem ewigen Kreislauf des geliebt werden Wollens und begebe sich dafür in ein ohnmächtiges Abhängigkeitsgefühl, während die Männer aus Angst vor Ohnmacht die Macht und Dominanz über das andere Geschlecht erhalten würden. Damit reproduzierten alle, oft unbewusst, dass Muster des Machtgefälles und lebten in vorgezeichneten Rollen, anstatt in persönlicher Freiheit, während gerade die Frauen sich in Freiheit wähnten.
„Wenn wir die Widersprüchlichkeiten zulassen, die Menschen ausmachen, wenn wir akzeptieren, dass wir alle stark und schwach zugleich sind, anstatt auf geschlechtertypischen Zuschreibungen zu beharren, können wir uns zeigen, wie wir sind, nicht wie wir sein sollen. Erst dann können wir uns Schritt für Schritt aus einengenden Geschlechterrollen entlassen, die sowohl Nähe als auch Entwicklung verhindern.“
S. 350
Ergänzend sei erwähnt, dass Konrads Blick auf „ihresgleichen“ – weiße, westliche cis-gender Frauen – konzentriert bleibt. Jedoch hat schon der Versuch, die Misere derselben multifaktoriell zu beschreiben über 350 Seiten erfordert. Dieser Umstand könnte die Leser*innen entmutigt zurücklassen oder sie endlich in seiner Gesamtheit dazu antreiben, die heutigen Freiheiten und Rechte im Westen für eine wahrhaftige Befreiung im Sinne einer Selbstannahme und Verweigerung der Fremdbestimmung durch doppelmoralische Normative zu forcieren, so dass wir nicht nur in sexueller Freiheit, sondern echter Selbstbestimmung leben können.
Zur Autorin:
Dr. Sandra Konrad ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit 2001 als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Hamburg. In ihrer wissenschaftlichen und therapeutischen Arbeit untersucht sie transgenerationale Übertragungen – also den starken Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart. Im Piper-Verlag erschienen von ihr „Das bleibt in der Familie“ und „Liebe machen“.