Beschreibung einer Krabbenwanderung
2018 im DuMont Verlag erschienen, erzählt Karosh Tahas Beschreibung einer Krabbenwanderung Migrationserfahrungen, Familienkonflikte und psychische Krankheiten aus der Perspektive der starken Protagonistin Sanaa.
Karosh Taha beschreibt in ihrem Debütroman die Krabbenwanderung von Sanaas Familie, die aus dem Irak nach Deutschland gezogen ist, als Sanaa ein Kind war. Jetzt ist Sanaa 22, Studentin und wohnt mit ihrer jüngeren Schwester Helin, ihrer depressiven Mutter Asija und ihrem abwesenden Vater Nasser in einem Hochhausblock mit dreihundertachtundsechzig Augen. Diese Augen werden durch Sanaas Tante und deren Freundin Frau Zakholy personifiziert, die Sanaa ihrem Äußeren entsprechend Baqqe (Frosch) nennt. Trotz Depression, Desinteresse und Überwachung, die alle Ausdruck von Machtlosigkeit der einzelnen Familienmitglieder sind, bewahrt sich die Erzählung eine Komik, z. B. wenn Sanaa ihrer Tante Marihuana in ihre Zigaretten mogelt, um den ständigen Redefluss abzuschwächen. Solche kleinen Widerstände stechen als aktive Handlungen aus dem um sich und seine Bewohner*innen kreisenden Hochhausblock heraus. Noch mehr Hoffnung geben Sanaas gelegentliche Besuche der Uni und die Treffen mit ihrem Freund sowie ihrem Liebhaber.
Nach der Schilderung von Sanaas familiären Strukturen beginnt die Geschichte, als Sanaa nun auch außerhalb ihres Viertels mit den Hochhäusern ein Paar männliche Augen aus einem Volvo heraus folgen. Mit ein paar Metern Abstand folgt dieses Augenpaar ihr nun konsequent: an die Uni, ins Restaurant und zu ihrem Liebhaber. Ohne je direkten Kontakt mit ihm aufzunehmen, bleibt es für Sanaa und die Leserin der unbekannte Volvomann, dessen unterschwelliger Bedrohung man sich nicht entziehen kann. Bis zum Ende des Buches hin spitzt sich die Situation zu und bleibt mit dem Handlungsstrang um die Familie Sanaas verwoben.
Ich frage ihn [den Kellner], ob er dem Mann in der Ecke sagen könne, er solle aufhören, uns zu begaffen.
S. 141f.
Er schlägt uns vor, uns umzusetzen, vielleicht auf die nächste Etage zu gehen.
„Er belästigt uns, nicht wir ihn. Wenn sich einer umsetzt, dann wohl er“, sage ich.
Helin meint, sie hätte kein Problem damit, sich woanders hinzusetzen. Aber ich beharre auf unserem Platz.
Der Kellner nickt und geht auf den Volvomann zu, redet leise mit ihm, um ihn nicht bloßzustellen.
[…]
Wir setzen uns um.
Durch die Schilderung einzelner Familienmitglieder fließen im Roman verschiedene Migrationserfahrungen zusammen: das Vermissen, das Verlorensein, die gescheiterte Integration durch die konzentrierten Strukturen des Hochhausviertels und sprachliche Barrieren, Angewiesenheit auf die eigenen Kinder, die Bedeutung von Bildung, familiäre Erwartungen und die Herausforderungen der zweiten Generation. Trotz der Zugehörigkeit zu einer Familie kämpft Sanaa allein, und die wenigen offenen Gespräche sind, wenn überhaupt, nur innerhalb der Familie innerhalb ihrer Generation möglich.
Im Verlauf der Romans wird wiederholt auf die titelgebende Geschichte der Krabbenwanderung referiert, bei der eine Krabbenfamilie das kleinste Mitglied vergaß. Obwohl das Schicksal der verlassenen Krabbe unbestimmt bleibt, kehrt Sanaa mehrmals zu dieser Geschichte zurück und vergleicht ihre Familienmitglieder mit diesem Tier: Ihre Mutter zieht sich in sich selbst zurück, der Vater hat rote Arme wie die Schale. Diese Vergleiche geben Einblicke in Sanaas Gefühlsleben und heben sich von den sonst knappen Schilderungen der Szenen ab, die von Gesprächen dominiert werden. Gebrochen wird diese Erzählart weiterhin von längeren Sexszenen sowie kurzen Rückblenden in ihre Kindheit im Irak.
„Ist das deine Tochter?“, fragt die fremde Frau, und Asija nickt.
S. 23
„Wie hübsch sie ist. Ist sie verheiratet?“, fragt sie, und es klingt wie: „Was kostet das?“
Mit Sanaa zeichnet Karosh Taha eine starke Protagonistin, die ihre Eltern nicht aufgibt und die eigene familiäre Situation verstehen will. Dadurch geraten andere Themen in Sanaas Leben, wie ihr Studium oder ihre sexuellen Beziehungen, aus dem Fokus der Erzählung. Dennoch zeigt sich daran Sanaas Sensibilität für die Weltanschauung ihrer Elterngeneration und gleichzeitig ihr Wille, ein anderes Leben zu führen.
Zur Autorin: Karosh Taha (*1987, Zaxo) studierte an der Universität Duisburg-Essen und in Kansas, USA, Anglistik und Geschichte. Im DuMont-Verlag sind Beschreibung einer Krabbenwanderung (2018) und Im Bauch der Königin (2020) erschienen. Hier findet ihr Ausschnitt aus Beschreibung einer Krabbenwanderung, von Karosh Taha gelesen.
PS.: Wir haben das Buch aus eigenem Gusto ausgewählt und selbst bezahlt.